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November 2006

GESUNDHEIT

21.11.2006

Kinderlosigkeit

Tausche Haus gegen Kind

Seitdem die Krankenkassen künstliche Befruchtung nur noch zur Hälfte finanzieren, sinkt die Geburtenrate. 10000 Kinder weniger werden deshalb pro Jahr in Deutschland geboren.

von Claudia Pless

Deutschland schrumpft. Mit rund 686000 Kindern ist die Zahl der Neugeborenen 2005 bundesweit auf den niedrigsten Wert seit 1945 gesunken, so das Statistische Bundesamt. Im europäischen Vergleich bilden die Deutschen mit einer Geburtenrate von 1,37 Kindern je Frau sogar das Schlusslicht. Ein historischer Tiefstand, der Politiker laut Alarm schlagen lässt. Doch beim Ruf nach mehr Familienfreundlichkeit wird eine Bevölkerungsgruppe vergessen: die ungewollt Kinderlosen.

Jedes siebte Paar in Deutschland leidet unter unerfülltem Kinderwunsch. "Die Dunkelziffer liegt noch höher", sagt der Hamburger Fortpflanzungsmediziner Gerd Bispink und spricht von einem "Tabuthema". Ungewollte Kinderlosigkeit gelte noch immer als gesellschaftlicher Makel, "als persönliches Versagen". Dabei lägen der Unfruchtbarkeit meist medizinische Probleme zugrunde. Sozialgesetzbuch und Weltgesundheitsorganisation definieren Kinderlosigkeit als Krankheit. Hilfe könnte von zahlreichen Experten kommen, die in Kinderwunsch-Praxen und Fruchtbarkeitszentren sowie in Universitäts-Klinken eine ganze Palette bewährter Sterilitätsbehandlungen anbieten.

Unerschwingliche Kinderwunsch-Behandlung

Allerdings fehlt es vielen betroffenen Paaren an den nötigen finanziellen Mitteln. Denn seit das Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) 2004 in Kraft getreten ist, bezahlen die gesetzlichen Krankenkassen nur noch bis zu drei Behandlungszyklen, und auch die nur zur Hälfte - vorausgesetzt, die Partner sind verheiratet, die Frau zwischen 25 und 40 sowie der Mann zwischen 25 und 50 Jahre alt. Bei einer Reagenzglasbefruchtung bedeutet das für ein Paar eine Selbstbeteiligung von mindestens 1500 Euro pro Behandlungsversuch.

"Das ist für viele Menschen sehr viel Geld", sagt Bispink. "Manche Patienten nehmen Kredite auf, andere verkaufen ihr Auto oder verpfänden ihr Haus." Durch "eine willkürliche, unfaire und chaotische Gesetzgebung" sei die Möglichkeit, sich fortpflanzen zu dürfen, von der finanziellen Situation abhängig und somit für einige unerschwinglich geworden.

Folglich ist die Zahl der Kinderwunschbehandlungen in Deutschland drastisch zurückgegangen. So verzeichnete das Deutsche In Vitro Fertilisations (IVF)-Register 2004 nur noch 61724 reproduktionsmedizinische Behandlungen gegenüber 107675 im Vorjahr. 2005 bestätigt eine ähnliche Zahl den rückläufigen Trend.

Klaus Bühler, Vorstandsmitglied des Deutschen IVF-Registers und Reproduktionsmediziner in Hannover, spricht von "mehr als 10000 Geburten weniger pro Jahr" aufgrund der neuen gesetzlichen Bestimmungen. Dieser "erschreckende Rückgang" stehe in keiner Relation zu einer fraglichen Ersparnis, die sich im monatlichen Krankenkassensatz gerade mal "an der vierten Stelle hinter dem Komma" bemerkbar mache.

Mehr Unterstützung für Kinderlose

Als "skandalöse Ungerechtigkeit" bezeichnet Bühler die finanziellen Folgen für die Patienten: "Je stärker die medizinische Störung, desto tiefer müssen die Betroffenen in die eigene Tasche greifen." Wobei Hartz IV-Empfänger genauso viel zahlen müssen wie gut verdienende Manager. "Wo bitte bleibt da die Solidarität?", fragt Bühler. "Wenn sich die Gesellschaft Kinder wünscht, dann sollte sie auch die ungewollt Kinderlosen solidarisch unterstützen - falls nötig mit medizinischer Hilfe."

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